Rezension – Jamil Jan Kochai: „99 Nächte in Logar“

Titel: „99 Nächte in Logar“

Autor: Jamil Jan Kochai

Übersetzer: Werner Löcher-Lawrence

Verlag: btb Verlag

Jahr: 2021 (Deutsche Erstausgabe)

Seitenzahl: 320 Seiten

Triggerwarnung: Gewalt, Tierquälerei, Sexismus, Mord, Krieg, Gore (mir fällt keine gute Übersetzung ein; Gore bezeichnet die sehr explizite Darstellung von Gewalt und Brutalität, was manchmal auch sehr eklig sein kann, hier gibt’s noch eine inoffizielle Definition: www.urbandictionary.com)

Bewertung: 1,5 / 5

Bewertung: 1.5 von 5.

Zum Buch

Hach, diese Rezension fällt mir schwer… Sehr schwer. Es hätte so gut anfangen können. Die liebe Luna von lebensbetrunken und ich haben nach längerer Zeit mal wieder einen Buddyread zusammen gemacht und uns für ein Buch entschieden, welches wir beide vom Bloggerportal als Rezensionsexemplar erhalten haben. Vielen Dank an dieser Stelle dafür! 🙂 Da es sich bei diesem Buch um ein Werk von einem Autor mit afghanischen Wurzeln handelt, war ich sehr gespannt darauf. Ich wusste vorher nicht viel über dieses Land und Bücher afghanischer Autor*innen habe ich bis jetzt keine gelesen. Außerdem hat mich das Cover des Buches gelockt – das Design und die Haptik des Buches sind wirklich sehr cool. Wir haben uns allerdings beide von Anfang nicht mit dem Inhalt anfreunden können. Und das ist leider bis zum Ende so geblieben.

Zunächst einmal die Inhaltsangabe:

Logar, Afghanistan, im Jahr 2005: Der 12-jährige Marwand kehrt mit seiner Familie für einen Sommer aus den USA in seine Heimat zurück. Doch wie „Heimat“ fühlt sich das Dorf ohne McDonald’s, dafür mit merkwürdigen Bräuchen und noch merkwürdigerer Sprache, überhaupt nicht an. Und dann beißt ihm gleich am ersten Tag Budabasch, der dreibeinige Wachhund des Dorfes, eine Fingerspitze ab und verschwindet in den Weiten des Hindukuschs. Für Marwand und seine Freunde beginnt eine abenteuerliche Jagd durch ein kriegsversehrtes Land. Eine wilde und märchenhafte Suche in 99 Nächten nach dem eigenen Platz zwischen den Kulturen.

Jamil Jan Kochai: „99 Nächte in Logar“ (Quelle: www.randomhouse.de)

Luna und ich hatten beide das Gefühl, in die Handlung wie in kaltes Wasser geworfen zu werden. Das Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt, in denen die einzelnen Tage bzw. manchmal Teile der Tage als Kapitel fungieren. Allerdings nicht chronologisch. Das allein erschwert schon das Einsteigen ins Geschehen. Auch ist die Familie von Marwand sehr groß und die ganzen afghanischen Begriffe für die Familienmitglieder und neue Namen werden der Leserschaft um die Ohren gepfeffert. Die ersten 50 Seiten waren wir eigentlich nur damit beschäftigt, alle paar Sätze hinten im Glossar nach den Wörtern zu schauen, die wir nicht kannten. Ich war zwar froh, dass es das Glossar gibt, aber so ist man leider andauernd aus dem Lesefluss gekommen. Irgendwann haben wir es aufgegeben, wirklich jedes einzelne Wort nachzuschlagen und haben uns vieles einfach hergeleitet.

Über die Charaktere kann ich (und Luna ebenso wenig) eigentlich kaum etwas sagen. Marwand ist ein zwölfjähriger Junge, der im Jahr 2005 mit seinen Brüdern und vornehmlich seinen Cousins Dawood und Zia und seinem Onkel Gul (wenn ich die vertrackten Familienbeziehungen richtig verstanden habe) die Gegend rund um Logar unsicher macht. Sie bleiben über den Sommer hauptsächlich in dem kleinen afghanischen Ort, in dem seine Eltern einst geboren wurden. Die Geschehnisse ließen sich für uns beide unheimlich schwer bewerten und einordnen. Das pubertäre Verhalten der Jungs hat mich stellenweise einfach nur genervt… Das Buch liest sich sehr chaotisch und frustrierend, da es einerseits so wirkt, als ob der erwachsene Marwand aus seiner Erinnerung heraus erzählt. Andererseits finden aber kaum Einordnungen, zum Beispiel hinsichtlich der Tierquälerei, statt, sodass man eher das Gefühl hat, die Worte aus dem Mund des immer noch zwölfjährigen Kindes zu hören. Was ist reine Fiktion und was sind Erinnerungen, die der Autor selbst gemacht hat? Hach ja, die ewige Diskussion um den toten Autor…

Erst möchte ich jedoch zu den Aspekten kommen, die mir gut gefallen haben. Ich habe wirklich viel Neues über Afghanistan gelernt, was mir kein Geschichtsunterricht vermitteln konnte. Dazu gehören das Aussehen der Gegend dort, Gerüche, Geschmäcker, die Küche, die Kultur, die politische Situation in den 2000ern und die Stellung der Frau. Ich war sehr fasziniert davon, dass die Frauen dort zwar sehr unterdrückt leben, aber dennoch ihre eigene, weibliche Kultur ausleben und teilweise doch recht viel in der Familie mitzureden haben. Wenn auch hauptsächlich hinter geschlossenen Türen und nicht im öffentlichen Leben. Auch ist die politische Situation dort so vertrackt und alle möglichen Nationen und Minderheiten sind so miteinander verstrickt, dass eine baldige Lösung des Konflikts unmöglich erscheint (den aktuellen Nachrichten zufolge könnte sich die Lage erneut aufheizen). Ergänzt wird die Handlung außerdem regelmäßig durch thematische Einschübe, bestehend aus Memoiren einzelner Charaktere, Legenden und den Hintergründen einzelner Familienmitglieder. Diese Abschnitte waren mir die liebsten und einige sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Zum Beispiel, als Marwands Vater aus seiner Jugend erzählt:

„Am Morgen des Hinterhalts hetzten wir die sowjetischen Panzer im Schutz von Land und Busch durch Wagh Jan und feuerten aus dem Laub entlang des Logar. Zwei Hubschrauber dröhnten über uns, und die Maschinengewehre prasselten los. Einige von uns wurden von unsichtbaren Kugeln getroffen, pressten die Hände auf Wunden, die es nicht gab, und stürzten in den Tod, der tatsächlich das Leben war.“

Jamil Jan Kochai: „99 Nächte in Logar“, S. 207

Das ist eine der Passagen, die mich sehr berührt und mir vor Augen geführt haben, wie wenig ich eigentlich über die Lage und die Identität dieses Landes weiß. Und wie wenig hierzulande über Afghanistan in der Schule gelehrt wird. Taliban und Krieg mit den USA, mehr wusste ich vorher nicht. Ich habe das Buch für mich zum Anlass genommen, mich mehr über die Geschichte und die Kultur des Landes zu informieren und das war wirklich sehr spannend. Ich rühme mich immer, offen gegenüber neuen Kulturen und unbekannter Literatur zu sein, aber da muss ich auch selbst mal die Verantwortung übernehmen und im übertragenen Sinne losgehen und mich über die Lektüre hinaus informieren.

So viel zum Positiven. Jetzt muss ich leider anfangen, meine Kritik irgendwie in Worte zu fassen. Zunächst zum Technischen: In dem Buch sind immer noch viele offensichtliche Rechtschreibfehler zu finden. Das geht eigentlich gar nicht, wenn das Buch ein ordentliches Lektorat bekommen hat. Erstveröffentlichung hin oder her. Der Schreibstil wirkt auf mich auch nicht sehr rund. Teilweise haben sich einige Wörter zu oft wiederholt und insgesamt gesehen hat es sich etwas hölzern gelesen. Aber das könnte u. a. an der Übersetzung liegen. Und auch für dieses Buch halte ich weiterhin daran fest, dass man Triggerwarnungen auch für gängige Literatur einführen sollte (und nicht nur für „moderne“ Medien wie YouTube-Videos oder Fanfiction…). Besonders die Szenen, in denen explizit Tierquälerei, Mord und Verletzungen beschrieben werden, haben dafür gesorgt, dass mir schlecht und ganz anders wurde. Ich hab’s mit ekelhaften Szenen echt nicht so und bin dementsprechend nicht wirklich vorbereitet darauf gewesen…

Die ganzen Zeitsprünge sind so verwirrend gewesen! Man liest zwar, welcher Tag gerade ist, aber es ist eine Anstrengung gewesen, die ganzen Stränge im Kopf zu sortieren und sich an alles zu erinnern. Und während ich am Anfang noch versucht habe, einige der unverständlichen Szenen metaphorisch zu lesen (z. B. die gesamte Jagd auf Budabasch, der zuvor Marwand den Finger abgebissen hat, als Allegorie für das Gipfeln in Gewalt und gegenseitiger Rache, oder meine Überlegung zur Vorbildfunktion von Eltern, Familie und Medien), habe ich selbst das am Ende aufgegeben. Es kamen einfach immer mehr Szenarien hinzu, die man nicht direkt erklären konnte und die wahrscheinlich im übertragenen Sinne zu lesen sind, aber wir sind beide nicht dahintergekommen. Und ich bin nicht der Meinung, dass das etwas mit dem Unterschied zwischen den Kulturen zu tun hat. Denn in die Kultur bekommt man eigentlich einen ganz guten Einblick.

Ich und meine Brüder fingen mit den Erkundungen kurz nach unserem Präventivangriff auf Budabasch an. Tatsächlich kam die Idee aus dem Tom-Clancy-Roman, den ich las. Spione sammelten immer erst Informationen, wenn sie einen Coup vorhatten oder jemanden verhören mussten, und deshalb meinte Gwora, wenn die Steine, die Äpfel und alles andere Budabasch nichts taten, sollten wir uns zurücklehnen und ihn eine Weile beobachten, seine Gewohnheiten und seinen Charakter studieren, um herauszufinden, wie wir ihm wirklich wehtun konnten.“

Jamil Jan Kochai: „99 Nächte in Logar“, S. 61

Bis auf eine Stelle am Ende, da wird den Leser*innen diese Kluft direkt vor Augen gehalten. Es wird immer von einem bestimmten Bekannten geredet, Watak, welcher ums Leben gekommen ist und eine Gedenkstelle bekommen hat. Ganz am Ende entschließt sich Marwands Vater, ihm die Geschichte zu erzählen. Aber sie ist auf Arabisch und es gibt keine Übersetzung dazu. Auch dafür habe ich gemischte Gefühle. Ich finde es einerseits spannend, wenn das quasi an die Menschen gerichtet ist, die aus diesem Sprachraum und dieser Kultur kommen und Arabisch lesen können bzw. den in Logar vorherrschenden Dialekt verstehen. Andererseits ist das aus literarischer Sicht der Höhepunkt der Frustration, da der Leserschaft dieses große Geheimnis vorenthalten wird und ein Loch in der Handlung bleibt, welches viele der Leser*innen nicht stopfen können. Insgesamt konnte ich einfach keine Beziehung zu den Charakteren und dem Buch aufbauen und es bleibt für mich wie der arabische Abschnitt am Ende. Verschlossen. Für mehr als 1,5 von 5 Sternen reicht es für mich leider nicht.

Die Rezension von Luna könnt ihr hier lesen: Jamil Jan Kochai „99 Nächte in Logar“ – Rezension

[Rezensionsexemplar]

3 Gedanken zu “Rezension – Jamil Jan Kochai: „99 Nächte in Logar“

  1. Danke für deine Rezension (und natürlich den ganzen Buddyread), liebe Alina. Ich finde du hast genau die richtigen Worte gewählt und ich konnte deine Kritik super nachvollziehen. Es ist einfach wirklich schade, dass uns das Buch nicht so begeistern konnte (hoffentlich wird das beim nächsten Mal besser!). Aber etwas über Afghanistan (und wie du so schön sagst: die Identität des Landes) haben wir ja trotzdem gelernt. Und der Austausch hat mir wieder sehr gut gefallen!
    Alles Liebe,
    Luna

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    • Danke dir, liebe Luna! ❤ Ja, unsere Buddy Reads machen mir auch immer Spaß, egal, wie das Buch am Ende ausfällt. Ich hoffe natürlich auch, dass der nächste für uns beide aber nicht so frustrierend enden wird, haha. 😀

      Liebe Grüße
      Alina

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